LOTTI STREHLOW

INTERVIEW ——— by cris, photo by  philipp rathmer, text & styling by dagmar hanneger //

Lotti  Strehlow ist Hamburgs älteste Stadtteilführerin und es liegt ihr am Herzen St. Pauli den Menschen nahe zu bringen. Liebevoll und gescheit erzählt sie bei ihrem Rundgang kritische, aber auch humorvolle Anekdoten. Es berührt sie peinlich, dass mittlerweile die Touristen bei vielen St.Pauli Führungen nur noch mit billigem Korn und den üblichen „Sauf-Zuhälter-Huren-Possen“ aus dem Amüsierviertel abgefüllt werden.

Sie liebt die Künstler und schaut aufmerksam auf die „Jungen“ die für ein buntes und positives Bild auf St. Pauli kämpfen und ist froh und stolz über alle, die sich engagieren und zu  Symbolfiguren wie Pastor Wilm –  der Flüchtlingen Obdach in seiner Kirche am Pinnasberg gab –  wurden. Und wer sie in der wunderbaren DOKU über St. Pauli „ Manche hatten Krokodile“ von Christian Hornung gesehen hat, weiß um ihre großartige Ausstrahlung. 

Lotti und ich kennen uns schon sehr viele Jahren. Wir beide leben auf St. Pauli und das verbindet uns. Wir lieben unseren Kiez und unsere oft verrückte und bizarre Nachbarschaft.


interview // by cris

lotti strehlow //
alter // 86 jahre

cris // Fotolaborantin, Bardame auf St. Pauli, Hotelbetreiberin, Schmuckhändlerin, die älteste Gästeführerin in Hamburg, Geschichtenschreiberin, es gibt in deinem Alter sicher wenig Frauen mit einer solchen Vita. War das alles schicksalhafte Fügung oder dein Lebensplan?

lotti // Geplant habe ich gar nichts — meiner Meinung nach geht das auch gar nicht. Natürlich hatte ich als junger Mensch gewisse Vorstellungen oder Ideen zum Leben. Ich wäre als junges Mädchen gerne Journalistin geworden, aber das war für mich nicht zu verwirklichen. Dennoch kann ich sagen, dass ich mich frei entfalten konnte und gelernt habe, meinen Weg zu gehen.

Ich bin 1931 geboren, meine ersten acht Jahre verbrachte ich auf St. Pauli bei Pflegeeltern. Im Grunde war meine Kindheit ziemlich kurios. Wir zogen oft um, ich musste jedes Mal wieder neu anfangen, eine neue Schule, neue Freunde finden. Als der Krieg ausbrach, zog ich zu meinen Großeltern in ein kleines Dorf in Hessen. Das hat mir, trotz der schlimmen Umstände, Krieg und immer wieder getrennt von der Mutter, eine wunderschöne Kindheit beschert. Ich war quasi das siebte Kind meiner Großmutter und bin in Freiheit dressiert worden. Ich war ein sehr aufgeschlossenes und wissbegieriges Kind — ging sehr gerne zur Schule und las mit Leidenschaft alles, was mir in die Finger kam. Ich wollte unbedingt lernen und denke auch heute noch, dass es das wichtigste im Leben ist, Fragen zu stellen.

Als ich 15 war, trennte sich meine Mutter von meinem Adoptivvater, denn sie wollte eigene Wege gehen — das hieß für mich, auf eigenen Beinen stehen zu müssen. Die nächste Journalistenschule war in München und das war absolut utopisch. Das hätte ich mir alles nicht leisten können. So fing ich eine Laborantinnen- und Fototechnik-Ausbildung an, was auch eine witzige Geschichte war. Nach meiner Ausbildung bin ich erst noch in ein anderes Labor gegangen und dann fing ich an, in Bars auf St. Pauli zu arbeiten. Wir verdienten alle entsetzlich wenig Geld und natürlich haben wir damals alle„beschissen“ gelebt, aber alle waren froh, dass der Krieg vorbei war.

Heute werden Kinder anders groß, meiner Meinung nach zu behütet. Man kann das schwer vergleichen, aber ich habe in meiner Kindheit gelernt, das beste aus den Umständen, in denen ich lebe, machen zu können.

cris // 86 Jahre, viel gelebte Zeit — schreibst du Tagebuch?

lotti // Ja, ich glaube ich habe 1997 damit angefangen.

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cris // Ein jeder wie er kann im friedlichen Miteinander, das verbindet dich mit St. Pauli, früher mehr als heute. Sind die „guten alten Zeiten“ einfach vorbei — oder ist auf eine Renaissance zu hoffen?

lotti // Das hoffe ich aus tiefstem Herzen.  Dass es wieder so wird, wie in den Jahren, die ich hier erlebt habe, ist sicher nicht möglich, dennoch braucht  St. Pauli mehr Qualität.

Wenn man beobachtet, dass es hier mittlerweile 48 Kioske gibt, an denen alle „vorglühen“ und nicht mehr in die Lokale gehen, wird einem doch schnell klar, dass dabei vieles zugrunde gehen muss. Meiner Meinung nach  bekommt man immer mehr „primitives Publikum“, die auf den Straßen zudem ihren Dreck hinterlassen.

St. Pauli ist nicht nur ein Amüsierviertel, nein, hier wohnen auch Menschen, Familien mit ihren Kindern und es ist manchmal schon unerträglich, wie sich viele hier verhalten. Würden sie in den Lokalen bleiben, würde es nicht nur dem Wirt besser gehen, sondern dort sorgt man auch dafür, dass sich alle benehmen.

Touristen hat es immer schon auf St. Pauli gegeben, aber was hier täglich an Menschenmassen durch die Straßen geschleust wird, macht diesen Ort einfach kaputt. Und natürlich muss man auch sagen, dass gerade die Drogen diesen Stadtteil massiv verändert haben.

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cris // Selbstbestimmtheit ist dir wichtig — war Emanzipation je etwas, wofür du kämpfen musstest?

lotti // Eigentlich nicht — ich bin zur Selbstständigkeit erzogen worden. Innerhalb meiner Ehe war es nicht immer so einfach und Freiräume mussten erkämpft werden. Mein Mann war ein Stück weit zu besessen von mir und seine Eifersucht hat mich oft eingeengt. Dennoch — er akzeptierte meinen Wunsch, nach zehn Jahren unser Hotel in Oldenburg aufzugeben und unterstützte mich, als ich anfing, zunächst mit Playmobil und später mit Schmuck zu handeln. Ich habe ein „neues Leben“ angefangen, bin als Promotorin quer durch die Welt geschickt worden und habe mich später, mit eigenen Schmuckkollektionen selbstständig gemacht.

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cris // Du liebst das gesellige Miteinander und bist bei Veranstaltungen gerne mit die letzte, die den Raum verlässt. Woher nimmst du diese Energie?

lotti // Ich gehe zweimal in der Woche turnen und tobe mich aus; ich gehe schwimmen; dienstags gehe ich zu Chi Gong, das finde ich ganz großartig. Die Philosophie und die Gruppe gefallen mir.

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cris // Du hast aus und mit viel Liebe immer wieder von Neuem angefangen, hast Menschen verloren und eine schwere Krankheit überwunden. Trotz dieser Macken hast du den Spaß am Leben nie verloren — wie geht das?

lotti // Einmal ist es angeborener Frohsinn und dann denke ich, der viele Wechsel in meinem Leben hat mich fit gemacht hat. Man steht immer wieder auf, richtet seine Krone und geht weiter. Ich bin einfach in einer Zeit groß geworden, in der man das meiste mit sich selbst ausmachen musste, dass mich meine Mutter mal auf den Schoss genommen hat, das war einfach undenkbar. Ich wurde nicht verhätschelt, aber man hat mir auch keine Fesseln angelegt.

Na ja und ich habe ein ausgeprägtes „leck mir am mors“ Gefühl 😉

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cris // Gibt es etwas, was du heute nicht mehr tun würdest?

lotti // Heiraten — das halte ich für überflüssig. Man gibt zu viel Freiheit dafür auf.

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cris // Wenn du die Macht dazu hättest, was würdest du ändern?

lotti // Dann würde ich Mr. Trump auf den Mond schießen.

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cris // Eine starke Frau kennt keinen Schmerz — gibt es etwas, wovor auch du Angst hast?

lotti // Dass meiner Tochter mal etwas passieren könnte, denn ich habe ja leider meinen Sohn schon früh verloren. Was mich persönlich betrifft, habe ich keine Angst. Ich bin mit Anfang siebzig sehr schwer an Leukämie erkrankt. Kein Mensch hat geglaubt, dass ich das überlebe. Seitdem ich das durchgestanden habe, habe ich vor nichts mehr Angst. Ich war wirklich dem Tod so nah — dass mir alles egal war. Ich hätte es auch akzeptiert,  zu sterben. Sicher möchte ich nicht mehr so krank werden oder einen Schlaganfall bekommen und danach zu 100 % auf andere angewiesen zu sein,  aber das würde ich nicht als Angst bezeichnen.

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cris // An welchen Punkt deiner Vergangenheit würdest du gerne zurückkehren?

lotti // Jeder älterer Mensch wünscht sich wohl, noch mal 30 Jahre jünger zu sein; nicht weil es da besonders schön war, sondern weil man viel mehr Zeit zu leben hätte. Ich habe so viele schöne und auch schreckliche Momente gehabt, aber ich möchte den ganzen Blödsinn nicht noch mal erleben.


cris // Wer waren die Helden deiner Kindheit?

lotti // Ich weiß nicht; als Helden würde ich sie nicht bezeichnen aber ich bewunderte meinen Pflegevater „Opi“ sehr und meine Großmutter aus Hessen, bei der ich die Kriegsjahre verbracht habe. Das war eine tolle Frau. Sie hatte schon sechs eigene Kinder großgezogen und sich dann noch um mich und meine Cousine gekümmert. Sie hat auf so vieles verzichten müssen in ihrem Leben, war aber immer für alle da.

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cris // Was ist bei dir im Kühlschrank?

lotti // Butter, Fleisch, Gurke, Tomate, natürlich Feta, Oliven,

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cris // Was wäre ein schöner Gedanke an die Zukunft?

lotti // Dass alles in meinem Leben so bleibt, wie es gerade ist.

Danke für dein Mitmachen – und dass du uns teilhaben lässt.


thx//

cuneo//
franka and franko

bewegungamhafen//
uwe


quickreport//

1. süß oder salzig? beides

2. morgens oder abends? beides

3. mehr ist mehr oder weniger ist mehr? weniger ist mehr

4. lieber allein oder am liebsten mit vielen? kommt auf die situation an

5. auto oder fahrrad? ich bin leidenschaftlich auto gefahren

6. sekt oder selters? sekt

7. berge oder meer? meer.

8. elektro oder pop? beides

9. bleistift oder kugelschreiber? beides
10. rom oder hongkong? rom

11.wahrheit oder pflicht? pflicht, die leute müssen ja nicht alles wissen 😉


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